StudioAnsage: Sondersendung „Was läuft falsch in Neukölln“

Mit NKWatch und Ini „Kein Generalverdacht“ auf Mixcloud.

Das ganze Skript des Gesprächs zwischen NK-Watch und Kein Generalveradacht:

1. Einleitung durch Moderation

A: Guten Tag, an alle da draußen. Ihr hört eine Veranstaltung zur Frage: „Was läuft falsch in Neukölln? Rassistische Stigmatisierung und rechte Angriffe“, die wir leider ins Digitale verlegen mussten. Wir hoffen, ihr seid wohlauf.
Neukölln steht seit langer Zeit im Fokus rechter Aktivitäten. Und in jüngerer Vergangenheit werden auch besonders viele Razzien in Shishabars durchgeführt, die sich vermeintlich gegen die sogenannte „Clan-Kriminalität“ richten. Durch ihr häufig gewaltsames und willkürliches Vorgehen bedeuten diese Razzien letztlich aber vor allem eine Bedrohung für viele Neuköllner*innen. Außerdem sind sie Teil eines medialen Spektakels über den angeblichen Problemstadtteil Neukölln. Und das verstärkt ein gesellschaftliches Klima des Rassismus, der sich gegen kriminalisierte Menschen of Colour oder mit Migrationsgeschichte richtet. Dass dies tödlich sein kann – gerade auch mit dem konkreten Bezug auf Shishabars – wissen wir nicht erst seit den Morden in Hanau.
Für uns sind daher die Bedrohungen durch die Razzien und durch Angriffe von Nazis hohe Prioritäten im Bezirk.

B: Wir? Das sind zum einen die Initiative Kein Generalverdacht, die sich zum Ziel gesetzt hat, die rassistischen Razzien und die aufgebauschte Debatte drumherum zu beenden – durch Aufklärung und Druck. Und zum anderen die Initiative Neukölln Watch, die sich der Aufklärung des rechten Netzwerks in Neukölln verschrieben hat.

A: Wir werden daher zunächst jeweils einmal unsere Arbeit und unseren Ansatz vorstellen: Zuerst von Kein Generalverdacht, dann von Neukölln Watch. So wollen wir einen Überblick zu liefern, was eigentlich abgeht in Neukölln.
Dabei werden wir jeweils eingehen auf die Verknüpfung der Rolle des Staates und staatlicher Akteure, von mehr oder mind Rassismus mit dem Agieren von Neonazis.

B: Ausgehend von dieser Beschreibung wollen wir dann eine gemeinsame Analyse über den gesellschaftlichen Rahmen anstellen.
Und am Ende werden wir unsere Handlungsideen vorstellen und ein wenig diskutieren. Da es ein Podcast ist, können wir erstmal nur unsere Sicht vorstellen, freuen uns aber über Feedback und eine Diskussion.
Also, los gehts.

2. Input zur Arbeit von Kein Generalverdacht

– Wer seid ihr überhaupt? Seid wann gibt es euch und wieso?

Als Initiative gibt es uns seit Oktober 2019. Unser Gründungsimpuls war die Clan-Debatte. Denn mit der gingen und gehen in Neukölln krasse politische Maßnahmen und polizeiliche Repression einher. Vor allen Dingen sind das die sogenannten “Verbundseinsätze” mehrerer Behörden mit massiver Polizeibegleitung. Fast wöchentlich werden so seit 2018 rabiate Gewerbedurchsuchungen und begleitende Verkehrsskontrollen durchgeführt. Bei den Verkehrskontrollen sehen wir immer wieder Racial Profiling der Polizei. Dazu kommen rassistisch aufgeladene Diskussionen. Hier geht es dann um Dinge wie die Entnahme von Kindern aus “kriminellen” Familien.

Konkret haben wir uns im Anschluss an eine Veranstaltung zur Clan-Debatte & den Shishabar-Razzien im Refugio kennengelernt. Einige von uns hatten sie mit organisiert, andere waren dorthin gekommen, um sich in die Diskussion einzubringen. Über eine Kontaktliste die rumging entstand ein erstes Treffen. Die meisten von uns hatten sich schon vorher mit dem Thema beschäftigt, als Betroffene oder als Aktivist*innen.

Wir wollten die rassistischen Redeweisen, Generalisierungen und Maßnahmen anklagen, die mit der Debatte um die sogenannte Clankriminalität einhergehen. Wir wollten der Öffentlichkeit klarmachen, wie aufgebauscht und wie rassistisch sie funktioniert. Und wir wollten in Aktion treten. Unser Programm kurz gefasst: Wir stellen uns gegen die pauschale Verdächtigung, Kriminalisierung und Verdrängung von Neuköllner*innen – durch repressive Maßnahmen wie Razzien oder schikanöse Verkehrskontrollen, durch rassistische Diskurse, und durch angebliche Kriminalitätsbekämpfung.

– Wie läuft so ein Polizeieinsatz ab? Wie ist die Wirkung?

Der Einsatz läuft nicht immer 1:1 gleich ab. Es gibt aber Faktoren, die immer eine Rolle spielen:
In erster Linie handelt es sich immer um Vertreter einer oder mehrerer Behörden (bspw. Ordnungsamt, Finanzamt etc.) die begleitet sind von einem Aufgebot an Polizeibeamten. Im Schnitt sind das meist zwischen 30 und 70 Beamten, die häufig sichtbar schwer bewaffnet sind. In einigen Fällen waren z.B. auch Hunde dabei (obwohl es sich offiziell um Gewerbekontrollen handelt). Häufig begleiten Presse oder Lokalpolitiker*innen das Ganze.

Die Einsätze ziehen sich in der Regel über einige Stunden hin, in dieser Zeit ist kein normaler Betrieb möglich. Teilweise werden sogar die Gäste eingeschränkt – dürfen z.B. nicht das Lokal verlassen oder werden sogar durchsucht oder am Telefonieren gehindert. In vielen Fällen wurden auch durch Fehler die Lokale zu unrecht versiegelt. Mehrere Gewerbetreibende haben uns davon erzählt, wie Polizeibeamte künstlich hohe Kohlenmonoxidwerte erzeugten, indemsie einfach das Messgerät direkt in die Kohle hielten. So hat man dann einen Grund, das Lokal zu schließen Es wurde sich zwar im Nachhinein entschuldigt und das Lokal wieder geöffnet, der schlechte Eindruck und die Umsatzeinbußen blieben aber Problem des Betreibers.

Die Wirkung ist sehr schädlich. Für viele Gäste oder auch Anwohner*innen entsteht das Bild, die Betreiber wären Kriminelle. Der Umsatz fällt nicht nur während des Einsatzes aus, sondern bricht meistens komplett ein, was sich Wochen später noch zeigt. (Stamm)Gäste bleiben aus. Und nicht nur der schlechte Eindruck verjagt die Gäste, auch der Umgang von Seiten der Beamten lässt viele Leute die Bars meiden. „Ich dachte, das ist ein Terroranschlag“ oder „Sind wir hier in Syrien?“ – das sind Sätze, die wir häufig von Menschen gehört haben, die die Razzien miterlebt haben.

Auch das öffentliche Ansehen der Shishabars leidet extrem, die ständigen “Verbundseinsätze” und die mediale Hetze lassen ein Bild von einer kriminellen Parallelwelt in diesen Bars entstehen. Nicht nur Betreiber, auch Gäste und Mitarbeiter*innen werden kriminalisiert. Das führt zum einen dazu, dass sie sich ständig rechtfertigen müssen und sehr schnell in eine Schublade mit organisierter Kriminalität und Mafiastrukturen gesteckt werden. Zum anderen meiden dann viele die Shishabars. Das ist auch deswegen ein großes Problem, weil Shishabars für viele Jugendliche wichtige Feier- und Rückzugsorte sind, weil sie aufgrund wegen Diskriminierung an der Tür in andere Vlubs nicht reinkommen.

– Wie werden die Läden ausgewählt durch Polizei? Welche Rolle haben die Polizei, Polizeipräsidentin und der Innensenator?

Da wir in den betreffenden staatlichen Strukturen nicht drin sind, können wir natürlich nichts 100%ig Sicheres sagen. Aber durch unsere Gespräche mit zum Beispiel Shishabarbesitzern, mit Gästen, mit Anwält*innen oder mit Menschen aus der Verwaltung haben wir eine ganz gute Vorstellung davon, wie das so abläuft. Auskunft über den Umfang und die Ergebnisse der Razzien geben außerdem zwei parlamentarische Anfragen im Berliner Abgeordnetenhaus der Linken, die wir Interessierten auf jeden Fall als Hintergrundlektüre empfehlen! Klar ist auf jeden Fall, dass die Razzien auf einer politische Entscheidung auf Senatsebene beruhen, unterstützt von den jeweiligen Bezirken.

Die Leiter der Berliner Ordnungsämter treffen sich regelmäßig mit dem Innensenator (derzeit Andreas Geisel, SPD). Der gibt Schwerpunkte für die Arbeit vor – zum Beispiel Kontrollen in Shishabars. Solche Schwerpunkte ändern sich regelmäßig – vor ein paar Jahren standen wohl vor allen Dingen Spielhallen im Fokus. Und sie werden politisch festgelegt. Für die genaue Auswahl der Bars und Lokale, die Gewerbekontrollen unterzogen werden, sind aber die bezirklichen Ordnungsämter zuständig.

In Neukölln wetteifern Bezirkspolitiker wiederum um die Rolle des härtesten Bezirkssherrifs. Zunächst befeuerte vor allen Dingen AfD und der – Werteunion-Mann und Merz-Anhänger – Falko Liecke (Jugenstadtrat, CDU) – das Thema Clan-Kriminalitä. Aber dann witterte auch die SPD Profilierungsmöglichkeiten. So hat sich vor allen Dingen Bezirksbürgermeister Martin Hikel als Kämpfer gegen die Clans inszeniert. Das hat sich erst seit den Hanau-Anschlägen ein wenig gedämpft.

Tatsächlich ist es so, dass die Polizei bei den allermeisten der Einsätzen in Shishabars, Wettlokalen, Juwelieren – oder jüngst auch in Barbershops – nicht in eigener Sache tätig ist, sondern über die sogenannte Amtshilfe dazugeholt wird, wie wir eben schon angedeutet haben. Die Polizei funktioniert also eigentlich nur als assistierende Behörde, die bei der Durchführung anderer Kontrollen helfen soll. Formal zuständig ist nicht sie, sondern das Ordnungsamt.

Wie genau die Auswahl abläuft, können wir nur raten. Denkbar ist, dass, wenn ein bestimmter Gewerbezweig in den Fokus genommen wird, dort erstmal alle Gewerbe durchsucht werden und dann die Auswahl abhängig von den Ergebnissen eingeengt wird. Denkbar ist auch, dass die Polizei – wenn sie um Amtshilfe ersucht wird – auch mal Tips oder Hinweise gibt, welche Orte ihres Erachtens kontrolliert werden sollten. Barbara Slowik, die Polizeipräsidentin befürwortet die Razzien, spricht aber auch eher vage von ihrem Nutzen – es ginge darum, „Unruhe in die Szene zu bringen“. So oder ähnlich klingen die Begründungen.

Zentral für das Verständnis der bisher stattgefundenen Razzien ist: Die Polizei ist eigentlich immer bloß über die Amtshilfe dabei – das heißt, sie muss selbst keine handfesten Hinweise liefern, die auf Straftaten hindeuten. Schwarz auf Weiß zeigt das die erste der oben genannten parlamentarischen Anfragen. Bei der ging es um einen der größten bisherigen Einsätze in Neukölln am 27. März 2019, wo insgesamt 357 Polizeibeamt*innen als Begleitung dabei waren. Auf die Frage hin, ob es konkrete Hinweise auf organisierte Kriminalität gegeben hätte, lautet die Antwort der Senatserwaltung: „Ein konkreter Hinweis zu Aktivitäten oder Beweismaterial mit direkter Verbindung zur Organisierten Kriminalität lag nicht vor. Es handelte sich nicht um strafprozessuale Maßnahmen, insoweit sollten diese nicht dem Auffinden von Beweismitteln dienen.“ So etwas ist natürlich bemerkenswert, wenn die Berichterstattung einslautend über Einsätze gegen die organisierte Kriminalität spricht.

Die Krux ist dabei, dass es bei derart riesigen Polizeiaufgeboten natürlich so aussieht, als gäbe es lauter Beweise für kriminelle Aktivitäten. Über die Amtshilfe kann die Polizei also mit wenig Ermittlungsaufwand eine Art Rasterfahndung durchführen – bzw. die großstilige Schikane und Kriminalisierung einer ganzen Branche.

Es überrascht nicht, dass bisher im Rahmen der Razzien keine wirklichen Ermittlungserfolge in Sachen organisierter Kriminalität vorliegen – es sei denn, man schätzt kleinere Drogen- und Waffenfunde hier und da oder die Versiegelung von Spielautomaten als Erfolg ein. Im Allgemeinen sind die Delikte, die von der Polizei unter dem Begriff “Kriminalität aus ethnisch abgeschotteten Subkulturen” aka Clan-Kriminalität zusammengefasst werden, als Untergruppe der organisierten Kriminalität nicht besonders bedeutend. Bundesweit sind es zwischen 7-8% aller organisierten Kriminalität, in Berlin sieht es ähnlich aus. Im Jahr 2018 gab es beispielsweise 5 Verfahren in Berlin. Viel ist das nicht. Wir denken daher, dass es bei der Clan-Debatte eigentlich nicht hauptsächlich um die Bekämpfung von organisierter Kriminalität geht, sondern dass sie im Zusammenhang mit ganz anderen politischen Agendas steht. Aber dazu später mehr.

Rechtsstaatlich ist es problematisch, dass Gewerbekontrollen quasi als Eingangstor für massive Razzien missbraucht werden. Und auch im Konkreten laufen die Einsätze höchst problematisch ab. Beispielsweise wissen wir, dass Lokale durch bewaffnete Cops gestürmt werden, dass massenhafte Personenkontrollen von Gästen durchgeführt werden, dass Leute in den Lokalen festgehalten werden, dass Geschäften willkürlich geschlossen werden, mit daraus folgenden krassen Umsatzeinbußen. All das befindet sich völlig außerhalb der Befugnisse einer Gewerbekontrolle.

Damit haben wir jetzt schon ziemlich weit ausgeholt. Aber hat dies auch auf die Praxis der Neuköllner Rechten konkrete Auswirkungen? Neukölln Watch, wir übergeben an euch.

3. Input zu Nazis in Neukölln

– Wer seid ihr und was macht ihr?

Wir sind eine Gruppe von Antifas, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Verstrickungen des Naziterrors in Neukölln zu beleuchten, aufzuklären und zu verhindern.

– Wieso sprecht ihr vom „Neukölln-Komplex“?

In der Vergangenheit wurden die Naziaktivitäten in Neukölln oft als “Anschlagsserie” bezeichnet – das ist erstmal nicht unbedingt falsch, aber kann den Blick auf wesentliche Aspekte des rechten Terrors in unserem Bezirk verstellen. Z.B. werden Taten und Täter*innen der “Serie” zugeschrieben oder eben nicht, und geraten dann aus dem Fokus. Die Verengung auf zwei Täter und eine Tatzeit ab 2016 ist kontraproduktiv. Denn es gibt eine Kontinuität in zeitlicher, personeller und struktureller Hinsicht.

Zwischendurch werden wir immer wieder eine Reihe von Akteuren bzw. Gruppen nennen. Die müsst ihr euch natürlich nicht alle merken. Vielmehr wollen wir dadurch ein Gefühl für die Vielzahl der Akteure verschaffen.

– Was meint ihr mit zeitlicher Dimension?

Über 40 Jahre rechte Aktivitäten in Neukölln sind dokumentiert, in der Chronik auf unserer Website kann man vieles davon nachlesen. Schon in den 1970ern und 1980ern wurde ein rechtes Klima dort beschrieben. Hierbei stellen wir eine Auswahl (!) an Angriffen vor.

Im Dezember 1988 wird in Rudow eine Neonazikameradschaft namens „Berliner Türkenbeseitigungs Gang“ gegründet

1991 zündete Carsten Szczepanski einen Bus der Falken an, das ist eine SPD-nahe Jugendorganisation die in Neukölln schon seit 70ern immer wieder von Neonazis angegriffen wird, auch heute noch. Carsten Szczepanski wurde später bekannt als V-Mann – also Nazi, der sich für Infos vom Staat bezahlen ließ – im Umfeld des NSU, Deckname „Piatto“. Anfang der 90er ist er Kader der „Nationalistischen Front“ (NF) in Berlin, macht Wehrsport, baut Rohrbomben und gründet eine deutsche Gruppe des „Ku Klux Klan“ (KKK). Weil er mit anderen Neonazis einen Mann aus rassistischen Gründen beinah totprügelt, wird er zu Knast verurteilt. Im Knast dient er sich dem Verfassungsschutz an, der ihm wiederum mit Material und Logistik für sein Rechtsrock-Zine „Der Weisse Wolf“ hilft, das er aus dem Knast heraus herstellt und vertreibt und in dem er 2002 den NSU grüßt. Sein V-Mann-Führer ist Gordian Meyer-Plath, heute Präsident des LfV Sachsen.

Als 1999 Kurt Schneider in Lichtenberg von 4 Nazis totgeprügelt wird, kommt einer der Täter aus dem Neuköllner Milieu aus Neonazis und Fußball-Hools.
In den 2000ern gibt es eine ganze Reihe aktiver und gut vernetzter Kameradschaften in Süd-Neukölln: Frontbann 24, Division Rudow, Deutsche Gemeinschaft Süd, Kameradschaft Treptow, Berliner Alternative Süd-Ost, sowie lokale Ableger der Autonomen Nationalisten Berlin und des Nationalen Widerstands Berlin. Anfang der 2000er gründet auch die NPD ihren lokalen Bezirksverband sowie ihren Jugendverband „Junge Nationalisten“.

05.04.2012: Burak Bektaş wird in der Nähe des Klinikums Britz erschossen. Einige seiner Freunde schwer verletzt. Die Hinterbliebenen und die Burak-Initiative vermuten den Täter im Neonazi-Milieu.
Am 20.09.2015 wird Luke Holland auf offener Straße vom Nazi Rolf Zielezinski erschossen.

Seit 2016 haben wir dann das, was gemeinhin als „Anschlagsserie“ bezeichnet wird: Ein Häufung von rechten Brandanschlägen, Schmierereien und Drohungen. Die Angriffe richten sich allesamt gegen politisch aktive Personen, Vereine oder Orte, die sich dem Kampf gegen Rechts verschrieben haben. Anfang 2016 wurde auch Sebastian Thom aus dem Knast entlassen. Und es markiert den Zeitpunkt, als eine Reihe Neuköllner Neonazis in die AfD eingetreten sind.
Diese Anschlagsserie steht somit nicht für sich, sondern reiht sich aus unserer Sicht ein in eine Reihe von Naziaktivitäten in Südneukölln.

Insgesamt notieren wir über 100 Taten: mehrere Morde, Brandstiftungen an Autos und Gebaeude, Rassistische Angriffe und Sachbeschaedigungen, Persoenliche Drohungen, körperliche Angriffe auf politische Gegner, Jahrelange Hegemonie-Versuche. Mit diesen “historischen” Punkten deutlich machen: Kontinuität der Taeter, Taten, und Angegriffenen.

Aktuell haben wir in Nord-Neukölln rund um Sonnenallee und Wildenbruchstr. eine ganze Reihe von Angriffen: Hakenkreuze und SS-Runen an Läden, Hauswänden, einmal sogar im Treppenhaus. Zerstochene Reifen vor den betroffenen Häusern, und Anfang 2020 und jetzt am letzten Wochenende mehrere scheinbar willkürlich angezündete Autos in der Laubestraße. Hier kann davon ausgegangen werden, dass nicht nur einzelne, sondern die gesamte (auch) migrantisch geprägte Nachbarschaft gemeint ist.

– Und was heißt die personelle Dimension?

Wir zählenüber 100 Akteure: Neonazis, NPD, AfD, Fussball-Hools, Polizei, LKA, VS. Und beobachten dabei unzählige Überschneidungen und Bezüge, beispielsweise nach Adlershof, zum Nationalen Widerstand Berlin, nach Brandenburg oder zum NSU (wie bereits eben).

Wir wollen uns heute auf die drei Hauptverdächtigen fokussieren: Sebastian Thom, Tilo Paulenz und Julian Beyer.

Sebastian Thom
Sebastian Thom ist für diverse Aktivitäten der NPD und des ­„Nationalen Widerstands Berlin“ In Neukölln verantwortlich. Seine Neonazikarriere begann Anfang der 2000er Jahre, er wurde damals von einem besonders gewaltaffinen Rudower Neonazi, der u.a. wegen Waffenbesitz, Drogenhandel und Zuhälterei verurteilt wurde, sozusagen angelernt. Thom übernahm schnell eine Führungsrolle in der Rudower Naziszene, baute den NPD-Kreisverband und dessen Jugendgruppe JN auf.
Bis 2016 verbüßte er eine relativ kurze Haftstrafe. Nun ist er wieder raus und macht unbeirrt weiter.

Tilo Paulenz
Jugendfreund von Thom, Nachbar. War 2003 beim rassistischen Angriff auf Jugendliche beim Britzer Baumblütenfest dabei. Trat 2016 mit einem Kameraden in die AfD ein, schnell beliebt und Bindeglied zwischen Neonazis, Hooligans und Partei, wurde 2017 weniger als ein Jahr nach seinem Beitritt sogar in den Bezirksvorstand gewählt

Julian Beyer (Johannisthal)
Beyer ist ein weiterer langjähriger gewaltaffiner Neonazi aus dem Süden Neuköllns, er war an einer ganzen Reihe von rassistischenAngriffen beteiligt und gehört zum neonazistischen Netzwerk „Nationaler Widerstand Berlin“, das wir ja bereits erwähnt haben. Von Antifas wird er neben Thom und Paulenz seit Jahren als dringend tatverdächtig bzgl. der rechten Anschläge im Bezirk genannt – Anfang des Jahres stach auch die Polizei seinen Namen an die Presse durch und präsentierte das als großen Erfolg. Beyer wohnt inzwischen in Johannisthal, also von Rudow einmal über den Kanal nach Osten, und dort in der Nähe, in Adlershof, gab es in den letzten zwei Jahren viele rassistische Angriffe, die teilweise auf Beyer passen würden

Es gibt enge Verknüpfungen zwischen den verschiedenen Neuköllner Naziorganisierungen: rechte Hools (insbesondere von der rechten Hertha-Fangruppe Wannsee-Front und vom TSV Rudow), Nazis und AfD – alle ziehen am selben Strang und es gibt immense Überschneidungen. Genannt sei zum einen der gemeinsame Eintritt von Tilo Paulenz und seinem Kameraden Christian Blank in die AfD im März 2016. Zum anderen aber auch die Auflösung der Neuköllner NPD Ende 2018, deren Akteure ab diesem Zeitpunkt zur AfD zu zählen sind.

Eine weitere Schlüsselfigur hinsichtlich der Überschneidungen von Hools, AfD und autonomen Neonazis ist Chritian Blank. Er sitzt für die AfD in der BVV in Neukölln und ist Mitglied der rechten Hertha-Hooligangruppe „Wannsee-Front“. Es gibt aber auch Fotos, die ihn mit Neonazis vom Netzwerk „Nationaler Widerstand Berlin“ zeigen, er pflegt da also gute Kontakte. Es ist kein Zufall, dass er gemeinsam mit Tilo Paulenz in die AfD eingetreten ist. Es kann eigentlich davon ausgegangen werden, dass ab 2016 von Thom, Paulenz und Blank das Zusammengehen von NPD und AfD in Neukölln geplant und forciert wurde. Bei der AfD wurden die Neonazis und ihre Kameraden jedenfalls mit offenen Armen empfangen.

Zusammenfassend kann man zu AfD bundesweit und besonders in Neukölln sagen: Sie ist der parlamentarische Arm der Neonaziszene und Bewegungspartei weil man ganz genau das Zusammengehen von Partei und „Strasse“ mitverfolgen kann. Auch hierfür gibt es zahlreiche Beispiele, aber wir erparen euch die Feinheiten und machen weiter.

– Jetzt fehlt noch die staatliche Verknüpfung als Dimension?

Genau, und auch im Hinblick auf Einbindung in staatliche Strukturen beobachten wir in Neukölln Besorgniserregendes. Zunächst muss man sich bewusst machen, wie viele Einheiten gegründet wurden bzw. mit den Anschlägen befasst sind: EG Resin, OG Rex, BAO Fokus. Aber Ergebnisse? Fehlanzeige!

Zum einen die konkreten personellen Überschneidungen zwischen Polizei und AfD: Beispielhaft genannt sei hier ein Polizeibeamter Detlef Moritz, der zum einen Sicherheitsbeauftragter der Neuköllner AfD ist und zum anderen leitender Bulle im Abschnitt 65. Den Antifas in Treptow-Koepenick als besonders rechtslastig, gewalttaetig und geradezu sadistisch bekannt.

Oder ein Treffen im April 2018 zwischen dem LKA-Beamten Pit W. sowie Sebastian Thom und zwei weiteren Neonazis. Das LfV-Team, das Sebastian Team observiert, folgt ihm zur als Nazitreffpunkt bekannten Hertha-Kneipe „Ostburger Eck“ in Rudow, wo er zwei andere Neonazis trifft. Später kommt der LKA-Beamte Pit W. hinzu, der den LfV-Beamten bereits bekannt ist. Die vier unterhalten sich länger an einem Tisch, dann steigt Thom zu W. ins Auto und die beiden fahren davon. Dass das LKA Berlin, wie schon beim NSU, in der ersten Reihe mitmischt, wenn Neonazis ihren Terror planen und ausführen, macht uns wütend.

Doch genug des Recherchegenerdes.

3. Gesellschaftlicher Kontext

Nun gilt es, unsere Ergebnisse zu einer gemeinsamen Analyse zusammenzuführen, einzuordnen und am Ende Handlungsideen zu entwerfen.

NW:
Warum sprechen wir hier gemeinsam? Weil wir der Ansicht sind, dass man das eine nicht ohne das andere denken kann:
Feste Nazistrukturen in Südneukölln nicht ohne rassistische Razzien im Norden, rassistische Razzien im Norden nicht ohne die Nazistrukturen im Süden.
Denn zum einen besteht ein handfester Zusammenhang in dem Sinne, als dass gerade die gerazzten Shishabars darauffolgend von Nazis angegriffen werde. Zum anderen geschehen weder Razzien noch Naziangriffe im luftleeren Raum, sondern sind Ergebnis einer rassistischen Ideologie und Stimmungsmache.
Gesellschaftlich wird den Neonazis das Feld bereitet, Ermöglichungsräume angeboten.
Wir Antifas haben ja sonst oft einen Blick eher „nur“ auf die konkreten Nazis, Nazigruppen und ihre Strukturen. Wir glauben aber, dass sich gerade am Beispiel Neukölln zeigen lässt, wie wichtig die gesamtgesellschaftlichen Stimmungen sind.

KG:
Spätestens mit Hanau zeigte sich etwas, das wohl allen klar war, die den Hass verspürt haben, der im Zusammenhang mit der Clan-Debatte und den Shishabar-Razzien geschürt wurde: Der obsessive mediale Fokus auf Shishabars als Orte der kriminellen Bedrohung und der gefährlichen Araber/Türken/Kurden, wer auch immer, markierte diese Orte als mögliche Anschlagsziele. Hasskampagnen schaffen Angriffsziele.

Dabei ist es nebensächlich, wenn verantwortliche Politiker die Stigmatisierung abstreiten. Zum Beispiel, wenn sie nach einer massiven Razzia betonen, es seien ja „nicht alle Araber kriminell“. Denn durch die hasserfüllte Debatte und die rabiaten Maßnahmen wurde ein Bild geschaffen, was alte rassistische Fantasien vom „kriminellen Ausländer“ aufgreift und updatet.

Die Anschläge in Neukölln im Dezember 2019 zeigten deutlich, dass die Auswahl von Zielen für Nazi-Angriffe auch durch die Clan-Debatte geprägt war. So kam der betroffene Burgerladen im Vorfeld mehrfach in Dokus über Großfamilien und Kriminalität auf. Auch ein Haus in der Sonnenallee, das beschmiert wurde, galt laut Polizei als „Clan-Haus“. Und es ist nicht lange her, dass an der Grenze zwischen Neukölln und Tempelhof zwei Autos, deren Besitzer Menschen mit Migrationsgeschichte sind, mit Nazipropaganda beschmiert wurden: Hakenkreuze, 88-Markierungen, „Kanacke“ stand auf den Autos. Wir verbinden so etwas schon auch mit medialen Bildern wie dem vom kriminellen Clan-Mitglied mit fettem Auto, das gleichzeitig Sozialleistungen bezieht.

Es hört leider auch nicht auf: Die Clan-Debatte durchläuft jüngst einen neuen Loop. Hierbei werden zum Beispiel angebliches Schummeln bei Soforthilfen oder der Bruch von Infektionsregeln durch Trauernde zynisch skandalisiert. In Neukölln muss man das auch im Zusammenhang mit Hetzkampagnen gegen muslimische Gemeinden sehen, wie es beispielsweise im April rund um den Gebetsruf geschah, oder bei den Razzien im Mai, wo religiöse Orte verwüstet wurden.

Insgesamt muss man sagen: Die Debatte, in der gefährliche arabische Clans als Gefährder des Rechtsstaats dämonisiert werden, war politisch für rechte Kräfte höchst nützlich. Vor allen Dingen hat sie hier dem Zweck gedient, den Entzug von Staatsbürgerschaft und die Abschiebung von Menschen, die Straftaten begangen haben, zu legitimieren. Die AfD forderte in ihrem Bundestagswahlprogramm von 2017 bereits, “kriminellen Clan-Mitgliedern” die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Damals empörten sich die bürgerlichen Medien noch über diesen Tabubruch. Im Jahr 2019 bekannte sich die CDU-Innenministerkonferenz dazu, “kriminellen Clan-Mitgliedern” mit zwei Staatsbürgerschaften die deutsche entziehen zu wollen. Kritik gab es daran kaum.

NW:
Wichtig ist uns klarzustellen, dass solche Taten, wie auch in Neukölln durch Nazis aber eben auch die Razzien durch Polizei etc immer Botschaftstaten sind (nach innen und an Opfer wirken).
Das erinnert uns an die Verwüstungen bei Razzien. In der Rigaer zB waren nach Durchsuchungen die Betten danach unbenutzbar, weil mit Glasscherben voll, durchschnittene Internet und Telefonkabel, oder eine ganze Treppe rausgerissen. Die Anlässe wurden genutzt, um Macht zu demonstieren und Menschen zu nerven und fertig zu machen. Oder die Razzien im Mensch Meier letztes Jahr oder vor ein paar Jahren andere Lädenbezüglich „Schanklizenzen“. Solche Gewerbekontrollen dienen schon lange als Vorwand für Schikane und die Razzien als polizeiliches politisches Werkzeug.

KG:
Das ist ein alter Trick, den auch beispielsweise Schwulenbars oder andere „unliebsame“ Szenen kennen. So wie bei den Shishabars kennen wir das auch aus Schöneberger Schwulenbars, wo es auch eine Zeit lang richtig Terror gab bei Razzien wegen Brandschutz. Bei laufendem Betrieb wurden die Darkrooms von Polizist*innen gestürmt. Oder eben jetzt Razzien in Moscheen. Es gibt so viele Schauplätze gerade. Da wollen wir ein Gefühl für vermitteln, ohne alles aufzuzählen.
Als offene Frage für uns ist, wo die ganzen Daten landen. Denn teilweise wurden viele Daten aufgenommen bei Shishabar-Razzien. Werden sie gespeichert, sind sie in die Bundesdateien? Das erinnert uns auch an G20, wo Journis nicht akkreditiert wurden, weil sie mal auf ner linken Demo waren. Oder wie bei den sog. „Gewalttätern Sport“, wo Fans massenhaft in Dateien landen und gespeichert werden und beispielsweise Stadionverbote bekommen, ohne je in nem Stadion gewesen zu sein.

NW:
Besonders interessant angesichts der ganzen rechten Umtriebe in der Polizei, wie ja oben am Beispiel der Verschränkungen von Polizei & Nazis. Schon mehrmals wurde nachgewiesen, dass Berliner Polizeibeamte z.B. Daten aus dem Polizeicomputer für Drohbriefe gegen Linke verwendet haben, oder auch Daten aus Ermittlungsakten bei Neonazis gelandet sind.

4. Was tun? Handlungsideen sammeln

NW: Für uns ist gibt es zwei vorangiges Wege, wie wir gegen den rechten Terror in Neukölln vorgehen wollen. Zum einen das Benennen von Täter*innen und Verantwortlichen, wobei es dabei nicht bleiben darf. Unwillen und Unvermögen gehören skandalisiert und beendet. Das versuchen wir, indem wir es öffentlich machen. Daher begrüßen wir beispielsweise Aktionen, durch die die Nazis in ihren Nachbarschaften bekannt gemacht werden. Oder die proteste der Initiative Basta vor dem Landeskriminalamt.
Aber das geht natürlich nicht alleine, sondern dafür brauchen wir euch alle: Wir wollen mehr Öffentlichkeit herstellen und unsere Opposition in Neukölln erweitern. Es darf nicht mehr nur die Betroffenen und die Täter*innen geben, sondern eine große Menge dazwischen, die sich solidarisch positioniert und eingreift. Das geht schon im Kleinen los: Sticker oder Plakate können im öffentlichen Raum darauf aufmerksam machen und bildlich rechte Hegemonien brechen. So gehören Nazisticker entfernt (Achtung, da sind manchmal scharfe Rasierklingen drunter) und durch eigene Sticker ersetzt!

Daher enden wir mit einem Appell: Werdet aktiv! Organisiert euch!

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